Softwarequalität neu denken: Warum der Markt mehr Features statt bessere Software belohnt

Ein Impulsvortrag von Max Schulze bei der Green IT-Fachtagung „Open Source und Blauer Engel Software" im Bundesumweltministerium.

Sind Sie mit der Software zufrieden, die Sie täglich nutzen? Diese simple Frage stellte ich kürzlich bei der Verleihung des Blauen Engels für nachhaltige Software im Bundesumweltministerium. Die Reaktion des Publikums war eindeutig: Kaum jemand hob die Hand. Und das sollte uns zu denken geben.

Das Qualitätsdilemma im Softwaremarkt

Wir alle kennen das klassische Projektmanagement-Dreieck: Man kann nur zwei von drei Dimensionen haben – günstig, schnell oder gut. Doch im Softwaremarkt scheint diese Regel außer Kraft gesetzt. Die Gründe dafür erläutere ich in den folgenden Absätzen. So viel vorweg: wir erleben ein Phänomen, das ich als "Feature-Krieg" bezeichne.

Nachhaltigkeit – verstanden als Balance zwischen Auswirkungen auf Menschen, Umwelt und Wirtschaft – ist dabei nur eine von mehreren Qualitätsdimensionen. Andere sind Performance ("Es ist schnell und reaktionsfreudig"), Accessibility ("Es funktioniert mit Screenreadern"), Usability ("Es ist intuitiv bedienbar") oder Security ("Meine Daten sind sicher verschlüsselt"). Bei der Nachhaltigkeit geht es um Attribute wie "Es verbraucht wenig Energie" oder "Es unterstützt ältere Hardware".

Der Markt belohnt Features, nicht Qualität

Der Softwaremarkt hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Wir sehen eine massive Bewegung weg von maßgeschneiderter Software hin zu fertigen "Off-the-Shelf"-Lösungen – sozusagen das "Temu für Software". Für jedes Problem gibt es mittlerweile dutzende, fertige Softwarelösungen.

Der wirtschaftliche Anreiz dahinter ist klar: Statt Entwicklerzeit zu verkaufen (ein nicht skalierbares Geschäftsmodell), können Unternehmen mit Software-as-a-Service-Modellen Millionen von Lizenzen verkaufen. Das Ergebnis? Ein Markt, der fundamental anders funktioniert als andere Märkte.

Ein konkretes Beispiel: Zoom vs. WebEx

Schauen wir uns die Videokonferenz-Tools Zoom und WebEx an. Die Feature-Listen sind nahezu identisch - beide können mittlerweile nicht nur Videokonferenzen, sondern auch Whiteboards, Workspace-Funktionen, Chat, Telefonie und vieles mehr. Der Preis? Ebenfalls fast identisch bei etwa 12-13 Euro pro Nutzer und Monat.

Wo ist hier der Wettbewerb? In einem funktionierenden Markt würden wir erwarten, dass Konkurrenz zu niedrigeren Preisen und höherer Qualität führt,wie wir es vom Energiemarkt oder der Automobilindustrie kennen. Stattdessen konkurrieren Softwareanbieter fast ausschließlich über neue Features. Die Software wird nicht besser oder günstiger, sie bekommt nur immer mehr Funktionen.



KI verschärft das Problem

Die aktuelle KI-Revolution könnte dieses Problem noch verstärken. Mit KI könnten wir theoretisch Code neu schreiben, Effizienz steigern und die Qualität verbessern. Doch die aktuellen Marktanreize führen dazu, dass KI hauptsächlich für "One-Shot App Development" genutzt wird – noch schneller noch mehr Features zu entwickeln.

Tools wie Lovable oder Zero. Dev ermöglichen es, komplette Applikationen per Prompt zu generieren. Wir stehen vor einer Flut von noch mehr Software mit noch mehr Features,aber nicht unbedingt besserer Software.

Was können wir tun?

Als Ordoliberalist glaube ich daran, dass wir die Marktumgebung gestalten müssen, um bessere Ergebnisse für die Gesellschaft zu erzielen. Hier sind drei konkrete Vorschläge:

1. Qualitätskriterien in der öffentlichen Beschaffung

Die öffentliche Hand als großer Softwareeinkäufer kann als "Market Maker" agieren. Durch klare Qualitätskriterien – wie sie beispielsweise der Blaue Engel für Software definiert – kann sie den Markt in Richtung Qualität lenken. Ein Beispiel ist das niederländische Procurement-Tool, das Kategorien wie "Energie & Ressourcenverbrauch", "Transparenz & Verantwortlichkeit" und "Lebensdauer Software" bei der Beschaffung berücksichtigt.

2. Preisdifferenzierung für Qualitätssoftware

Für eine begrenzte Zeit könnten wir die Preisunterschiede zwischen hochwertiger und minderwertiger Software verringern. Dies würde die Erwartungshaltung der Kunden anheben und Qualität zum neuen Standard machen.

3. Mindestqualitätsanforderungen im EU-Binnenmarkt

Analog zum CE-Zeichen für Produkte könnten wir ein "CE-Label für Software" einführen. Dies würde Mindeststandards für alle in der EU verkaufte Software festlegen und somit das Qualitätsniveau insgesamt anheben.



Ein neues Narrativ: Es geht um Software, die funktioniert

Die entscheidende Erkenntnis: Nicht jeder mag der Nachhaltigkeit die gleiche Priorität einräumen. Aber wir alle können uns darauf einigen, dass wir Software wollen, die gut funktioniert. Software, die schnell ist, die unsere Daten schützt, die auch auf älteren Geräten läuft, die intuitiv bedienbar ist – und ja, die auch nachhaltig ist.

Nachhaltigkeit ist keine isolierte Anforderung, sondern ein integraler Bestandteil von Qualität. Wenn wir den Markt so gestalten, dass er Qualität belohnt statt nur Features, profitieren wir alle – und die Umwelt gleich mit.

Die Zeit ist reif für eine Neuausrichtung des Softwaremarktes. Die Frage ist nicht, ob wir es uns leisten können, auf Qualität zu setzen. Die Frage ist, ob wir es uns leisten können, es nicht zu tun.


Max Schulze ist CEO von Leitmotiv und einer der führenden Experten für digitale Politik in Deutschland. Mit 15 Jahren Branchenerfahrung und tiefgreifender technischer Expertise gestaltet er die Zukunft des digitalen Raums – von Marktdesign und Infrastruktur bis hin zu komplexem Systemdenken.